Ray Lewis darf mit einem zweiten Ring in die Pension gehen. Sein Beitrag - zumindest auf sportlicher Ebene - hielt sich aber in Grenzen. (Foto © Allen Kee / ESPN Images)
Der Beitrag von Ray Lewis zum Sieg der Ravens über die 49ers ist schwer zu fassen. Er war mit 7 Tackles nicht einmal der Leading Tackler seines Teams (das war Dannell Ellerbe), und man könnte auch böse sagen, dass in einem Spiel, wo beide Teams über 30 Punkte machten und die 49ers über 450 Yards Offense zusammenbrachten, die Defense eher einen müden Tag hatte. Lewis war zwar am Feld als das Spiel mit einem Goal-Line-Stand entschieden wurde, aber der Ball ging bei den entscheidenden Versuchen nicht in seine Richtung. Lewis der Spieler war in dem Fall weit weniger ausschlaggebend als Lewis der Coach, denn Coaches, so hieß es, wären die spannendste Story in dieser Super Bowl.
Besagter Goal Line Stand offenbarte durchaus die Unterschiede der beiden Harbaugh-Brüder: Auf der einen Seite ein ruhiger Stratege, der genau gewusst hat, was zu tun ist: Blitz, Zone, Blitz, Blitz. John Harbaugh wollte lieber einen unerfahrenen QB werfen lassen, als sich auf Spielchen mit einem super Groundgame einzulassen. Bruder Jim hingegen, der anarchische, wilde, emotionale der beiden, verfiel in den klassischen „Mad Madden“-Modus: Dieses Gefühl, wenn man Plays wiederholt erzwingen will, wenn sie einmal nicht funktionieren. Jim Harbaugh weiß um die Wichtigkeit, Tendenzen zu unterwandern, seine eigene Offense ist z.B. mit einem Fokus auf das in der NFL kaum mehr vorhandene (und somit von Defenses kaum mehr studierte) Downhill-Blocking eine Paradebeispiel dafür, wie wichtig es ist, gegen den Strom zu denken. Aber im entscheidenden Moment wurde er unruhig.
Jim war vermutlich frustriert. Frustriert von Chris Cullivers‘ Spiel, das den Ravens erlaubte mit 21-6 in die Pause zu gehen. Frustriert mit seinen Special Teams, die einen Kickoff-Return-TD zuließen. Und frustriert mit den Schiedsrichtern, die für seinen Geschmack zu lax regiert haben. Er wollte bei der Pressekonferenz mit Klasse und Anstand damit umgehen, fand aber drei Sätze später nur Galle für die Refs. Man wurde das Gefühl nicht los, einem unsicheren, unerfahrenen Coach zuzusehen, der mit seiner Hitzköpfigkeit auch sein Team prägte. Denn die 49ers sahen das Spiel über auch so aus: Hitzköpfig, wild, aufgeregt. Nach zwei Wochen Pause eröffnet man den ersten Spielzug mit einer illegalen Formation. Immer wieder schwieriges Clock Management, unnötige Penalties, verbrannte Timeouts, liegen gelassene Two-Point-Entscheidungen, fragwürdige Challenges.
Nervös ist vielleicht das beste Wort dafür. Jim Harbaugh ist ein junger Coach, der ein sehr junges Team vor sich hat. Sie dürfen noch nervös sein, sind sie doch früher als alle dachten überhaupt erst in die Lage gekommen, nervös sein zu können, indem sie auf der größten aller möglichen Bühnen auftraten. Das legt sich mit der Zeit, mit der Erfahrung. QB Colin Kaepernick wird lernen, mit Pressure besser umzugehen, solche Picks nicht zu werfen, etc. Die Defense wird lernen, bei Third Down wacher zu sein, Plays bis zum Ende durchzuverfolgen etc. Die 49ers gehen nirgendwohin, die sind gekommen um zu bleiben, das ist auch eine Lektion aus dieser Super Bowl.
Die Ravens spielten das Spiel als erfahrene Hasen, inklusive dem Müdigkeitseinbruch, der erfahrene Hasen auszeichnet. In Hälfte eins waren sie routiniert, souverän, selbstsicher. MVP Joe Flacco warf mühelos Touchdowns in seiner 70er Retro-Chic Offense, Rookie LG Kelechi Osemele dominierte Veteran Justin Smith, Third Downs waren kein Problem, die über die Saison fast immer fantastischen Special Teams steuerten einen TD bei, die Defense verunsicherte den Gegner. Der Blackout im dritten Viertel beim Stand von 28-6 führte zur klassischen Schere: John wurde konservativer, Jim risikofreudiger, das Ravens Tackling sloppy, die 49ers holten auf. Bis zum Goal Line Stand und dem No-Call gegen CB Jimmy Smith.
Anstatt auf die Refs zu schimpfen, die ein klassisch laxes Playoff-Spiel mit Fehlern ablieferten (welches z.B. bei weitem nicht so schlimm wie Pittsburgh-Seattle war), sollte man vielleicht eher das neue Regelwerk-Loophole adressieren, das die Super Bowl heuer hervorgebracht hat. Letztes Jahr bewiesen die Giants am letzten Drive der Patriots, dass die Regeln zu brechen (und mit 12 Mann am Feld zu stehen) durchaus Vorteile bringen kann. Heuer punten die Ravens Sekunden vor Schluss aus der eigenen Endzone und nehmen den Safety in Kauf, um dem Gegner möglichst wenig Zeit zu lassen. Der brillante Schachzug von John Harbaugh hierbei: Die GESAMTE Ravens Unit hat gehalten was das Zeug hält. Der Grund ist einfach: Man gewinnt ein bisschen mehr Zeit. Sollte die Strafe in der Endzone kommen, ist das Ergebnis ein Safety, also eh das, was man schon in Kauf nehmen wollte. Sollte einer der Holds außerhalb der Endzone geflagged werden, würde die Strafe nicht angenommen werden, weil sie den Ravens ein weiteres Down (und keine Rückerstattung der verflossenen Zeit) bringen würde. Gute Coaches sehen solche Lücken, und die besten nützen sie aus.
Wohin geht es nun mit den beiden Teams? Auf der Hand liegt, dass die 49ers noch für etliche Jahre gut aufgestellt sind, und die Parallelen zu Lombardis Packers gibt es ja zur Genüge. Die Ravens verlieren jetzt mit Lewis ihren vielleicht besten Coach, haben aber eventuell endlich ihren Eliten Quarterback gefunden, der das wieder wettmachen kann: Joe Flaccos Playoffrun war einer besten, den ein QB je hingelegt hat (Montana ´89 vielleicht ausgenommen). Seine Explosion in den Playoffs erinnert zusammen mit der durchwachsenen Regular Season ein bisschen an die 2007 Giants: Eli Manning hat einen ähnlich brillanten Run nach vielen Jahren der Fragezeichen ausgenutzt um zum Zentrum des Teams zu werden. Und andere Kernleistungsträger der Ravens (Dannell Ellerbe, Ray Rice, Paul Kruger, Haloti Ngata) sind auch noch nicht im Pensionsantrittsalter.
John Harbaugh wird, wie alle Champions, Schwierigkeiten haben, den Erfolg zu widerholen. Seit 2005 haben drei Super Bowl Sieger (die letztjährigen Giants und die Steelers in ´05 und ´08) im Jahr drauf die Playoffs versäumt, alle anderen waren one-and-done-dort. In der paritären Ära ist dynastienhafte Brillanz kaum haltbar, Upsets sind an der Tagesordnung. An Einzelfiguren aufgehängte Dominanz über mehrere Jahre weicht mehr und mehr Teams, die alle die eine oder andere Schwachstelle haben. Multiple Zugänge und mutige Coaches müssen das Beste aus einem immer angeschlagenen Kader rausholen, und die Ravens werden sich anpassen müssen, um post-Ray bestehen zu können. Für ein Team, das auf Konsistenz und Erfahrung aufgebaut ist, sicher keine leichte Aufgabe.