Stolz und stattlich sonder Gleichen

Die Baltimore Ravens sind die drittjüngste Franchise der NFL, schenkt man den finanziell motivierten Machenschaften wichtiger Männer glauben. Ein Team ist aber mehr als die Summe seiner Besitzurkunden.

Autor:
Marko Markovic

Der emotionale Leader der Baltimore Ravens. An Ray Lewis kommt man in diesen Tagen nicht vorbei. (Foto © Keith Allison)

Ray Lewis wird am Sonntag in seiner zweiten Superbowl spielen, und er wirft als Einzelperson schon so viel Geschichte ab, dass man glauben könnte, es spielen die 49ers gegen die Baltimore Rayvens. Lewis war alles, was man sein kann, von Mordverdächtiger bis Super Bowl MVP, und die Geschichte der Ravens ist untrennbar mit seinem Erstrundenpick 1996 verbunden, aber es gibt noch Ecken und Enden, die oft untergehen im Dickicht der kurzen Aufmerksamkeitsspannen. Die Geschichte der Ravens ist länger und komplizierter. Die Geschichte der Ravens ist geprägt von nicht einem, sondern gleich zwei der kontroversiellsten Umzüge der NFL. Die Geschichte der Baltimore Ravens ist eine voller Emotionen und Enttäuschungen.

Als einigendes Symbol einer blue collar Arbeiterstadt waren die Baltimore Colts von 1953 bis 1983 Teil einer Gesellschaft, die einigende Symbole dringend brauchte. In jener Zeitspanne verlor Baltimore an die 200.000 EinwohnerInnen und Armut und Kriminalität machten es zum Sinnbild des amerikanischen urbanen Albtraums. Die Colts hatten Johnny Unitas, eine fantastische Marching Band, NFL Championships, Super Bowls und eine Wertschätzung, die nur wenige Teams erreichen würden. Unitas und die vielfachen gewonnen NFL-Titel verschwanden jedoch in einer Nacht-und-Nebelaktion von Teambesitzer Robert Irsay 1984, als er das Team samt seiner Geschichte mittels Umzugslastern nach Indianapolis übersiedelte. Dieser so genannte Mayflower-Transit ließ Fans geschockt zurück, der Bürgermeister von Baltimore bemühte sich, nicht vor laufenden Kameras in Tränen auszubrechen.

Aber die Stadt hörte nicht auf, die Marching Band spielte einfach weiter, ohne Team, ohne Aufgabe, ohne Ziel, außer jenem, weiterzumachen, und 12 Jahre später, holte Browns-Besitzer Art Modell sein Team in einer ähnlich windigen Situation von Cleveland nach Baltimore – mit dem Beisatz, dass dies ein neues Team wäre und die Geschichte der Browns in Cleveland bleiben muss. (Wer meint, das Detail wäre unwichtig, muss sich nur die Hall of Fame Büste von jemandem wie Unitas anschauen: Da steht „Indianpolis Colts“ dran, auch wenn besagter Herr keinen Snap seines Lebens in jener Stadt spielte. Es ist besser, man fragt Ravens Fans nicht, wie sich das für sie anfühlt.)

Modell wählte seinen ersten Head Coach passend: Ted Marchibroda coachte in den 70ern noch die Baltimore Colts und ward zuletzt gesehen, als seinen 1995er Indianapolis Colts (und ihrem QB, einem gewissen Jim Harbaugh) 90 Sekunden zum Super Bowl Einzug fehlten. Ihn von Irsay zurückzustehlen war bittersüß, ganz im Gegensatz zum neuen quasi-GM: Ozzie Newsome, ehemals Browns-TE, übernahm die Rolle des Personalchefs ganz un-bitter und draftete mit seinen ersten zwei Entscheidungen zwei zukünftige Hall of Famer: LT Jonathan Ogden und einen gewissen Ray Lewis. Lewis wird später erzählen, dass er den Anruf gekriegt hat, als das Team noch keinen Namen hatte. Legenden und Märchen wurden geboren, die aber immer einen bitteren Beigeschmack hatten. Jeder wusste um die verletze Geschichte dieser Fans.

Eben diese Fans durften abstimmen und nannten das Team Ravens nach dem berühmten Edgar Allen Poe Gedicht, das einen mystischen Raben als Symbol für die Unmöglichkeit von Heilung, Hoffnung und Erlösung immer wieder das Wörtchen „Nimmermehr“ sagen lässt. Newsome widersprach heimlich und machte aus den Ravens binnen kürzester Zeit eine der besten Franchises der AFC. Seine Drafts waren brillant, wer auf einen extrem doofen Fehler (Kyle Boller) in 17 Drafts kommt, kann nicht anders beschrieben werden. Die Ravens waren im Regelfall smart bei Trades (z.B. WR Anquan Boldin) und immer sehr gut im Entwickeln von late round oder undrafted Talent (z.B. LB Dannell Ellerbe). Belohnt wurde die tolle Front Office Arbeit mit einer historisch großartigen Defense, die 2000 die Super Bowl nach kürzester Zeit heimholte und über eine Dekade lang dominieren würde, mit ständigen Playoffteilnahmen.

Aufgebaut wurde die Defensive Epoche – logisch – vom eigentlichen offensiv Guru Brain Billick, der aber nach einer eher mauen 2007er Saison gegangen wurde. Auf der Suche nach einem Nachfolger fand Newsome John Harbaugh, den Special Teams Coordinator und Defensive Backs Coach der Philadelphia Eagles, erst nachdem der eigentlich Wunschkandidat (Jason Garrett) abgelehnt hatte. Harbaugh gelang das seltene Kunststück, Head Coach zu werden, ohne je vorher NFL Offensive oder Defensive Coordinator gewesen zu sein. Harbaugh und Newsome holten QB Joe Flacco, in der ersten Runde 2008 und fanden sofort zurück in die Playoffs, wo sie seither einen Fixplatz haben. Nach Jahren des Ausscheidens gegen große Brüder (Steelers), Imperien (Patriots) und die eigene Vergangenheit (Colts) besiegte man heuer erstmals alle drei auf einmal – und den ikonischsten Colt dieser Zeit, Peyton Manning, noch dazu.

2012 ist also ein besonderes Jahr für Baltimore. Lewis geht in Pension, Art Modell ist am 6. September gestorben. Die letzten Eckpunkte der ersten Generation einer Franchise, die sich gar nicht als erste Generation fühlen sollte, neigen sich dem Ende zu. Ein Abschluss in der Super Bowl wäre die passendste Liebeserklärung an eine Stadt, die Amerika in all seiner Würde und all seinen Problemen darstellt. Eine andere (oft missverstandene) Liebeserklärung an Baltimore lief von 2002 bis 2008 auf HBO und nannte sich „The Wire“. In ihr sagte der fiktive, aber an den ehemaligen Baltimore Bürgermeister Martin O’Malley angelehnte, Bürgermeister Carcetti einmal sehr treffend: „It's Baltimore. No one lives forever.“ Was über die reale Situation der Footballfans, die alles verloren haben (Colts), ebenso viel aussagt, wie über das jetzige, finale Aufbäumen einer unglaublichen Karriere (Lewis). Die Ravens sind, der Name spricht Bände, das einzige Team, das diese dunkle Seite ihrer Gesellschaft offen mit ausverhandelt. Wie der Rabe es schon andeutete, weiß diese Stadt und dieses Team wie kaum ein anderes Bescheid über die Vergänglichkeit des American Dream. Während die meisten anderen Super Bowl Teams immer versuchen, ihre Geschichte zu überwinden (Saints), zu verschweigen (Patriots), zu umjubeln (Packers) oder schlicht indifferent sind (Giants), wäre eine erneute Ravens Super Bowl eine mehr als großartige Fußnote und ein demütiges Dankeschön an die Vergangenheit. So bitter sie auch gewesen sein mag.